Eierfresser

Dana Shirley Schällert

„Dann verkauf’s. Wennde ihm schon nichn Hals umdrehen willst, verkauf’s doch einfach.“ Sagt die Mutter mit ihrer harschen Stimme. Immer wieder muss sie sich sowas anhören. „Biste viel zu alt dafür inzwischen. Und hastes doch noch nie hingekricht, mal was richtich zu machen. Hätt mich was gewundert, wennde Viecher, wenndes denen gut gegang wär bei dir.“ Elise schaut auf ihre fleckigen Finger, die die Tasse mit dem Kaffee umkrallen. Ihre Nägel sind spitz, so feilt sie das, was bleibt, wenn sie mal nicht alle abgeknabbert hat. „Deine Nägel sehn schrecklich aus. Schrecklich!“, schimpft die Mutter, Elises Blick gefolgt. „Fast 70 und knabbert noch immer ande Nägel wien kleines Mädchen.“ Missbilligend schiebt sie Elise das Ei vor die Nase. „Da. Selbst bringste ja keine. Pa! Eierfresser! Wo gibt’s denn sowas?“ Elise starrt auf das Ei. Hoffentlich ist es zumindest durch. Sie hasst es, wenn die Eier noch halb roh sind. Meist setzt ihr die Mutter die Eier auf diese Weise vor, halb roh, das Weiße noch ganz glibbrig-transparent, dass es an Körperflüssigkeiten erinnert, das Gelbe darin kein klar herausschälbarer Vollmond, sondern ein Gelbschleim, der sich jedes Mal beim Essen in die Haare auf ihrer Oberlippe setzt. Und die Mutter setzt sich ihr gegenüber, sieht sie an, mit diesem befriedigten Blick, wenn Elise ihren Ekel überwindet und das Ei dennoch isst. Was auf dem Tisch steht, wird gegessen. Elise ist jedes Wochenende bei ihrer Mutter. Bald 90 ist die nun und lebt noch immer. Und jeden Sonntag gibt es Eier. Bis vor kurzem hat Elise die selbst mitgebracht. Denn sie hat ja nun Hühner. Und ihre Wäsche, die hat sie auch dabei. Die Mutter wäscht sie ihr. Bügelt sie. Auch Elises Unterhosen. Das hat Elise früher peinlich gefunden, aber sie hat sich dran gewöhnt. Sie hat nun Hühner. Eine eigene Wohnung auch. Auf der anderen Seite des Ententeichs. Da trifft sie sich mit ihrer Mutter. Früher fast jeden Tag. Heute ab und zu. Denn Elise hat ja nun Hühner. Elise mag Tiere sehr. Besonders Vögel. Als Kind schon wollte sie immer gern Vögel haben, am liebsten einen Papagei mit ganz vielen bunten Federn, dem sie sprechen beibringen würde. Oft hat sie sich vorgestellt, dass der Papagei ihr im Tausch das Fliegen beibringen würde. Aber sie hat keinen Papagei haben dürfen, noch nicht mal einen Wellensittich. „Mir kommt son Viechzeuch nich ins Haus!“, hat die Mutter immer barsch gesagt, wenn Elise wieder davon angefangen hatte. Und das ist so geblieben. Elise hat stattdessen im Hof die Spatzen beobachtet. Ihnen Brotkrumen hingeworfen, sie zutraulich gemacht. Den Schrei der Krähen imitiert, bevor sie ihnen heimlich die Essensreste dargeboten hat. Sie lernten schnell, kamen, wenn Elise rief. Aber als die Mutter begriffen hat, was Elise trieb, hat sie den Hof abgeschlossen. „Was schämste dich nicht, das Ungeziefer da anzulocken. Erst kommde Spatzen, dann kommde Ratten!“ Elise hat sie durchs Fenster beobachtet. „Was soll das Getue mitde Vögeln!“, hat die Mutter immer gestöhnt. „Was nutzen die denn? Gar nix nutzen die! Hühner, ja, Hühner, die sind ja wohl zu was gut, aber die Krähen und die Spatzen! Ungeziefer!“ Eine Zeit lang hat Elise die Wildvögel gezeichnet, Elise fand eigentlich, dass sie gut zeichnet. Ihre Lehrerin in der Schule hat das auch gesagt und Elise sogar Kohlestifte geschenkt, die man verwischen konnte wie Nebel, und das sah so schön aus. Nebelkrähen. Oder einmal, da hatten im Baum vor ihrem Fenster Meisen ein Nest gebaut. Sie konnte es sehen, erst die Eier, dann die kleinen Küken, die bläulichen Augenkugeln, die rotschwarzen Schnabellöcher, sie sah sie ihren ersten Flug tun, sah das leere Nest, war frei, war froh. Zeichnete. Versteckte alles sorgfältig unter der Matratze, es war klar, dass die Mutter es für nutzlos hielt. Und dennoch hat die Mutter es gefunden. Die Mutter war sorgfältig, sehr sorgfältig, sehr sauber. Hat es gefunden, ihr Gesicht verzogen, den Kopf geschüttelt, es in den Papierkorb geworfen, wo auch der zusammengekehrte Dreck vom Boden landete. Am Abend stellte Elise fest, dass auch das Nest aus dem Baum verschwunden war. Elise hat nicht mehr gezeichnet. Nicht mehr richtig. Nur mit den Augen. Hat oft die Pupillen bewegt, in der Luft, als zeichne sie Gegenstände nach. Wenn ihre Mutter nicht hinsah. Oder mit ihren Nägeln feine Linien in ihre Haut gezogen. Wenn sie weiß waren, verblassten sie nach einiger Zeit. Waren sie rot und wurden später braun, nicht ganz so schnell. Ihre Mutter hat das beim Baden gesehen. „Pfui!“, hat sie gesagt. „Dummes Ding du, weißte nichts mit dir anzufangen.“ Und also hat Elise versucht, etwas mit sich anzufangen, hat in der Bäckerei der Mutter beim Backen und im Verkauf geholfen. Aber sie ist ungeschickt gewesen, das hat die Mutter oft gesagt. Sollte sie die Eier für den Kuchen aufschlagen, fand sie nie das richtige Maß, zuerst setzte sie die Schale zu sanft an, später zu hart, sodass das Eigelb platzte, oft rann ihr die ganze klebrig-schnoddrige Masse über die Hände, auf die Kleidung, zu Boden. Der höhnische Blick der Mutter sprach es deutlicher aus als ihre Worte: „Bist ja wirklich zu nichts zu gebrauchen. Das liegt dran, dassde so spinnert bist im Kopp. Wasde wohl immer denkst. Dassde was anderes erleben willst in deinem Leben, wa? Mehr, wa? Dummes Ding mit den zwei linken Händen da und dumme Träume im Kopp!“ Einmal ist da ein junger Mann gewesen, so ein Malerlehrling ist das wohl gewesen, denn der kam oft mit ein paar andern und mit einem weißen Anzug, der nicht mehr weiß war, mit ganz vielen Flecken drauf nämlich in bunten Farben, und ganz wuschlige Haare hat der gehabt, und da war auch oft Farbe drin, und der hatte schöne dunkle Augen und Haut wie hellbraune Erde. Da war Elise sowas mit Mitte 20 gewesen. Und der war oft gekommen, der junge Mann mit den Freunden, der hatte so ein flottes quietschgelbes Auto, mit dem er über die Straße flog, und der hat am Stehtisch immer zu Elise rübergelächelt über seinem Kaffee. Hat Wurstbrötchen gegessen, jeden Tag, der junge Mann, dazu ein gekochtes Ei. „Rund wie der Mond und hellgelb, so muss das Eigelb sein. Wie in einer Vollmondnacht, wo ich mit meinem Mädchen oben auf dem Berg sitze, unterm Baum, und runtergucke auf die Stadt, wo die Lichter glühn, als hätte sie wer gemalt.“, hat er zu ihr gesagt, einmal, das Eiweiß vom Eigelb gepellt und den kleinen gelben Ball in der Hand gehalten, hochgeworfen, dass er kurz schwebte. „Oder wie die Sonne! Oder die Welt im Sonnenschein!“ Und er hat gelacht und gesagt: „Vielleicht werd ich Dichter! Und du mein Mädchen?“ Und Elise ist ganz rot geworden. Dann ist die Mutter dagewesen, aus dem Nichts, hat den jungen Mann und die andern rausgeschmissen. „Der Nichtsnutz da! Dichter! Vollmond! Ich tret den gleich in dem sein Vollmond, wenn der hier son Blödsinn erzählt!“, hat sie geschrien, ganz rot im Gesicht, das auch rund war, ein Wutball, eine Erde, die brennt, und dann hat sie Elise angestarrt, als hätte sie etwas Unverzeihliches getan. „Lass dich nie, nie! Mit einem dieser Nichtsnutze ein! Hörst du? Sonst, du, du…“ Und sie hat so drohend geschaut, dass Elise den Blick gesenkt hat. Der junge Mann ist nicht wiedergekommen. Ein paar Mal hat sie sein gelbes Auto gesehen, ein Mädchen auf dem Beifahrersitz, wie es vorbeigeflogen war. Elise ist sehr schweigsam geworden. Sie kratzte noch oft an der Oberfläche. Wenn sie ihr Blut sah, war sie manchmal ruhiger, sodass ihr Inneres mehr ihrer Schweigsamkeit glich. Und sie bemalte mit den Augen die weißen Wände mit Urwäldern. Mit Papageien, mit Tukanen, malte Nester in Bäumen, zu Wasser, im Schilf. Flügel im Wind, über den Wipfeln, vor der Sonne, dem Mond. Bemalte innere Leinwände lichtbeglänzt, dass sie glühten. Aber manchmal drängte das alles so sehr nach außen, mit heftiger Kraft, und die roten Pinselstriche an den Gelenken, der Fluss der Gedanken und Wünsche malten ihr die Panik ins Gesicht. Es drückte so stark, es pochte zu heiß, sie schlug ihren Kopf, den runden Kopf gegen die Wand, möge er doch zerbersten wie die Schale der Eier, wenn sie sie an der Rührschüssel aufschlug! Möge sich das alles in seiner glibbrigen Konsistenz ergießen über Kleidung und Hände! Doch nichts brach, es rumste nur, wieder und wieder, die feinen Risse in der Haut brachten keine Linderung, auch nicht das Schreien. Aber sie brachten etwas anderes. Unverhofft. Unerwartet: ein Zimmer. Ein eigenes Zimmer in einem anderen Haus. Gegenüber vom Ententeich. „Ekelhaftes gestörtes Ding, du! Bei dem Lärm kann ja keiner schlafen!“ Und Elise hat ihre Möbel mitgenommen und in das leere Zimmer gestellt, es war bei alten Leuten im Haus, die die Mutter gut kannten. Und eine Küche und Waschmaschine und alles hatte Elise auch nicht, sodass sie noch oft bei der Mutter war. Oft saßen sie auch am Ententeich, denn der lag zwischen ihren beiden Wohnungen. Sahen den Enten zu, saßen nebeneinander auf der Bank, zwei alte Frauen, beäugten die Enten, Elise traute sich nicht, Futter mitzubringen. Einmal haben sie gesehen, wie mehrere Erpel eine Ente begatteten, sie haben sie untergetaucht, sie hat wild geflattert, irgendwann aufgehört, sich zu wehren. Ihr Körper war erst später leblos wieder aufgetaucht. „So ist das nämlich.“, hatte die Mutter bitter gesagt. Elise war stumm geblieben. In ihrem Raum hat sie sich heimlich einen Wellensittich zugelegt. Hansi. Er war gestorben. Sie hat ihn sehr geliebt, aber zwischendurch, wenn sie so traurig war und die inneren Bilder so drückten, dann hat sie vergessen, ihn zu füttern. Dann vergaß sie ja auch selbst zu essen. So ist es auch dem Zebrafinken gegangen. Die Hühner nun hält sie im Hinterhof in einem kleinen Quadrat auf einem Stückchen Wiese. Da würden sie auch mal Futter finden, wenn sie selbst mit drückendem Kopf im Bett liegt und an nichts denken kann. Aber etwas stimmt nicht, mit dem einen Huhn stimmt etwas nicht. Das Huhn mit den rötlichen Federn, dessen Blick so menschlich aussieht. Sie hat es vor einigen Tagen das erste Mal bemerkt. Das Huhn frisst, nachdem es ein Ei gelegt hat, dasselbe auf. An seinen Federn um den Schnabel klebt der gelbe Dotter, es stapft herum, ruckend wie ein Huhn es tut. Elise hat, seitdem sie es das erste Mal gesehen hat, gewartet. Hat es erneut betrachten wollen: Das Huhn, das sein Ei frisst. Hat es gesehen. Immer wieder. Hat im Hof gesessen, die Augen weit geöffnet, das Gefühl gehabt, sie sei das Huhn und das Huhn sei sie. Jetzt sitzt sie an der Mutter Tisch, hört deren Stimme, schält mit den schnabelspitzen Nägeln den nur halb durchgekochten zerflossenen Mond aus dem Ei, zerdrückt ihn zwischen den Fingern und wirft ihn, im Versuch, das Gesicht unbewegt, der völlig verdatterten Mutter, ihrer pergamentnen Leinwand, entgegen. Der schmierige Klumpen gelb-oranger Farbe pappt noch immer zwischen ihren alt gewordenen Fingern.