Der Pirat und sein Kosmos

Dana Shirley Schällert

Ich sehe das Chaos, sagt Andrej. Unendlichkeit über Unendlichkeit, helle und weniger helle Punkte in unregelmäßigsten Abständen, weiß, dass ich unendlich viele noch nicht einmal sehe, obwohl sie da sind, in absoluter Dunkelheit, manche tauchen mit der Zeit auf, andere verschwinden, viele bilden Nebel, eine Menge ist längst tot, ich weiß, ich blicke in die Vergangenheit, in viele einander überlagernde Zeiten, unendlich viele Varianten des Seins und Nicht-Seins, Zwischenzustände, alles überlagert sich, alles gleichzeitig da, alles gleichzeitig nicht, ich sehe das Chaos, Resultat eines Knalls, wer weiß, wo überall es immer wieder aufs Neue rumst, kollabiert, explodierende Supernovas, schwarze Löcher, es fasziniert mich, es saugt mich auf, ich kann nicht mehr wegsehen. Sie schweigt. Er sitzt dort, auf der Bank, über der Arbeit, die vermutlich in wenigen Stunden getan gewesen wäre, doch ist es längst Nacht geworden. Sitzt dort, dunkel wie immer, seine vollen Haare, sein Blick, sein dichter Bart, vor allem der Zug um seinen Mund, die zahlreichen Schatten, die ihn umgeben, selbst bei Tageslicht, sitzt dort und schweigt nun, schaut sie nicht an, sein Blick geht in die Nacht, scheint sich mit dieser zu verbinden, wenn diese Verbindung nicht sogar permanenter Natur ist, denkt sie. Seine Hände liegen von sanftem Zittern durchzogen in seinem Schoß, von Ruhen zu sprechen, wäre zu viel, doch immerhin sitzt er nun und starrt und steht nicht auf und läuft herum, wie er es vorhin getan hat, wie er es oft tut. Er wirkt so fremd und wie von etwas umgeben, das ihn scheidet von allem andern, von der Umgebung, von ihr, nur der Nacht vertraut. Sie hätte gern ihre Hand auf seinen Arm mit den aufgestellten Härchen gelegt. Hätte ihm mit Freude etwas von der Fremde genommen, die ihm eignet, Mutter der Schatten. Ich nicht, hebt Hanne leise an. Ich sehe Ordnung und Struktur. Kosmos bedeutet dies auch, weißt du. Ursprünglich. Man spricht ja auch von kosmischer Ordnung. Alles hat seinen Platz, ist in Ruhe, ewige Kreisbewegungen, das Universum atmet aus. Wir selbst sind an unserem Platz, seit diesem Urknall, den du meinst, beschreiben eine immer wiederkehrende Bahn, es entstand etwas, entsteht fortwährend, differenziert sich in neue Ordnungen aus, doch immer auf Basis gleichbleibender Prinzipien. / Wir. Murmelt er. Sein Lächeln wird von herabhängenden Mundwinkeln flankiert, der Blick wendet sich nicht ihr zu, er bleibt ins Dunkel gerichtet. Ich sollte etwas Licht holen, sagt sie nach einer Weile ins Schweigen hinein. Spielt mit dem Gedanken an die Taschenlampe ihres Handys, entscheidet sich dann anders, sie möchte nichts zerstören, was möglicherweise werden könnte, obwohl sie ahnt, dass die Schatten zu lang, zu tief sind. Holt ein Windlicht, obgleich es beinah windstill ist, zündet ein Feuer an, die Flamme steht ruhig und aufrecht, ihr Licht verliert sich gleichmäßig in der Nacht. Er sitzt nicht mehr, lehnt am Geländer, schaut weit hinaus. Ich weiß aber, was du meinst, sagt er. Sein Gesicht wendet sich ruckartig ihr zu, er wirkt kurz sehr nah. Vorhin, als wir hier saßen, da war es noch weit chaotischer. Ich meine, wenn man hier runterschaut, von deiner Wohnung, da runter schaut auf die Kreuzung, da wimmelt es von Autos und Menschen und Lärm …  Sie kann in seine Augen sehen, kurz, unruhig vibrierende Zentrifugen, denkt sie. Vorhin hat er andauernd in den Himmel gesehen, das ist ihr aufgefallen. Ein richtiger Hanns Guck-in-die-Luft. ||| Wenn der Hanns zur Schule ging, / Stets sein Blick am Himmel hing. / Nach den Dächern, Wolken, Schwalben / Schaut er aufwärts, allenthalben: / Vor die eignen Füße dicht, / Ja, da sah der Bursche nicht, / Also daß ein jeder ruft: / „Seht den Hanns Guck-in-die-Luft!“ ||| So ein Träumer, das hat sie gedacht. Und zwischendurch ist sie fast ein bisschen böse auf ihn gewesen. Wenn es darum ging, Ideen zu sammeln, ja, dann ist er immer dabei gewesen, da haben seine Augen geradezu geglommen, da war er wie scharfgestellt, alles an ihm, sein Körper, sein Kopf, als blicke er durch ein Fernrohr auf etwas, das sie selbst nur in der Ferne erahnte, aber er, er sah es ganz scharf, mit höchster Konzentration, konnte es geradezu ertasten, dachte zehnmal so schnell wie sonst, wie sie, sie spürte, wie im Blick durch dieses Fernrohr etwas, was zunächst Vision war, Gestalt annahm. Und ein bisschen hatte sie wohl gehofft, dass diese Faszination, dieses Scharf-gestellt-Sein, auch etwas mit ihr, mit ihrer Anwesenheit zu tun haben könnte, denn er sah ja sie an, lang, strahlend, als durchführe ein Blitz sein gesamtes Gesicht, seinen Körper. Aber dann, immer, wenn das Überlegte festgeschrieben werden musste oder wenn es ans Recherchieren ging, wenn Dinge nachgeschlagen, fundiert werden mussten, dann hatte er sich ausgeklinkt, dann war sein Blick abwesend geworden, geradezu leblos und leer, abgeschweift, und dann war er gelaufen, gegangen, getigert, ziellos, um der Bewegung wegen, zwischen unbestimmten Punkten umher, die keine Lichtpunkte waren wie die Sterne, zwischen denen er sich verlieren konnte. Vielleicht, hatte sie gedacht, vermisst er seine Listen, diese merkwürdigen Listen. Vor allem an der Brüstung, da hatte er sich immer wieder verloren, war stehen geblieben, hatte mit zuckenden Lidern gestarrt. Hey, Was machst du? Denkst du noch darüber nach, wie wir diesen argumentativen Schritt begründen können? Verwirrt hatte er dann ausgesehen, einige Male schien er sie gar nicht gehört zu haben. Und jedes Mal, wenn er zurückgekommen war und sich gesetzt hatte, war sein Blick in die Wolken gegangen. Da oben ist es ruhig, hat er gesagt. Am Tage. Ich seh mir den Himmel an. Auch da kann ganz schön was los sein, aber selten ist es mehr, als wenn man nach unten schaut. Es ist ruhiger, gemächlicher. Weniger chaotisch, obwohl es selbst auch bereits eine Menge Chaos in sich trägt, wenn man allein die gesamten Wolkenformationen bedenkt. Ich hab mal ein kleines Piano-Piece komponiert, über Wolkenformationen, manchmal höre ich Klänge, wenn ich was sehe. Wenn ich nachts an den Himmel schaue, dann schaff ich das aber nicht so, da springt mein Blick hin und her oder mein Verstand spielt verrückt, ich weiß nicht, da find ich keinen Anker. Ja, denkt sie, genauso kommt er ihr manchmal vor, als wenn er keinen Anker fände. Ein kleines Boot mit dunklem Segel, hin und her geworfen zwischen den Wellen. Keiner im Ausguck, das Fernrohr kullert planlos über die Planken, geht unbemerkt über Bord. Man weiß nicht, wohin es ihn treibt, was ihn treibt, aber er wirkt getrieben. Ein Brüchiger und sein Schiff. Hatte er ihr nicht selbst in einer Pause einmal lachend erzählt, er habe als Kind Pirat werden wollen? Und sie denkt: das Wasser. Der Hanns Guck-in-die-Luft landet auch im Wasser. ||| Noch ein Schritt! und plumps! der Hanns / Stürzt hinab kopfüber ganz! — / Die drei Fischlein, sehr erschreckt, / Haben sich sogleich versteckt. ||| Der Himmel, das Wasser, ein grundloser Boden. Wer oben mit oder ohne Fernrohr nach einem Anker sucht, der verliert ihn unter den Füßen. Du komponierst? / Gelegentlich. Manchmal kommt mir eine Idee, dann muss ich mich gleich ans Klavier setzen. Aber meist kriege ich die Sachen nicht fertig. / Spielst du denn gut? Also kannst du richtig improvisieren und so? Er hat gelacht. Wieder dieses Lachen, bei dem die Augenbrauen nach oben weisen, Richtung Himmel, während die Mundwinkel gen Boden zeigen. Aufs Wasser? Unter Wasser? Vielleicht wäre ich gut, wenn ich mal dran bleiben würde … Was das Improvisieren angeht: Wenn ich eins kann, dann das. Und wenn ich was nicht kann, dann alles andere. Er hat gleich wieder nach vorn gestarrt, ins Leere, Kosmos, der leere Raum, vermutlich in seinen inneren Kosmos, Kosmos? Chaos? Als er, noch früher am Tag, zu ihr gekommen war, beide hatten sie Material besorgen und mitbringen wollen, war ihr kleiner Balkontisch innerhalb einer Minute zu einem unüberschaubaren Schlachtfeld an Büchern, Heften und Broschüren geworden. Nur ein Bruchteil betraf im eigentlichen Sinne das Thema, an dem sie hatten arbeiten sollen. Erstaunt hatte sie die vielen Zettelchen gesehen, die in die Bücher und Hefte geklebt worden waren. Sie wirkten, als wären den Büchern bunte Haare gewachsen. Was ist das?, hatte sie gefragt. Ich war noch in der Bibliothek, gestern, hab mal alles mitgebracht, was zum Thema passte. Mich an einigen Stellen festgelesen. Und sie denkt daran, wie es war, als sie ihn vor etwa einem Monat im Institut einführen sollte, als sie ihm dort die Räumlichkeiten gezeigt hat. Er hat nach einem Gebäudeplan gefragt, nach einem Plan für die zwei Flure, in denen ihr Fachbereich niedergelassen ist, nur zwei Flure, gerade, mit jeweils acht Türen auf beiden Seiten und je zwei an den Enden. Während sie die Gänge abgegangen waren, sie ihm erklärt hatte, wo welcher Kollege, wo die Sekretariate und wo ihr gemeinsamer Raum wären, hatte er sich peinlichst genau Notizen gemacht. Über seinem Schreibtisch hingen lange Listen, die er immer wieder ausgiebig studierte, selbst wenn die Sonne schien, war seine Schreibtischlampe auf hellster Stufe eingeschaltet. Und während sie neben der Arbeit aß oder einen Kaffee trank, räumte er stets alle Arbeitsgegenstände ab, bevor er etwas zu sich nahm, säuberte selbst die Tasse und stellte sie aufs Regal, erst dann legte er wieder sein Arbeitsmaterial vor sich. Diese Strukturiertheit und Ordentlichkeit hatten sie irritiert und befremdet, ebenso wie das Umherwandern im Raum in Phasen, in denen sie sich selbst um Konzentration bemühte. Doch schon nach den ersten Tagen war ihr aufgefallen, dass dahinter vermutlich etwas lauert, das ihr noch fremder ist – Sind all die Zettel, die Listen Anker? Oder eher Navigationshilfe? Als Notbehelfe für all diese Momente, in denen er ohne Fernrohr, ohne Fokus, ohne Ziel ist (und davon scheint es viele zu geben) und im Dunkeln treibt? Sie sieht ihn jetzt, er lehnt weit über die Brüstung, das Gesicht zwischen den Händen, die das lange Haar durchfurchend nach hinten geschoben haben, das kleine schwarze Schiff mit Totenkopfflagge unterm Sternenhimmel, es schaukelt, ziellos, es wirft seinen Anker aus, endlich einmal nicht treiben. Der Grund ist weit zu tief. Die Sterne sind zu vielfach, der Himmel unendlich wie das Meer, ihm fehlen Kompass und Sextant. Sie muss an das Nietzschezitat mit dem tanzenden Stern denken. Versucht den Nachthimmel mit seinen, Andrejs, fremden Augen zu sehen. Sieht die Sterne flimmern, erscheinen, verschwinden hinter unsichtbaren Wolkenschwaden, hinterfragt einen jeden, ein Flugzeug? Lebt er oder ist er längst gestorben? Wie alt mag er sein? Vergisst sich selbst im Angesicht des Ganzen – ein Punkt in einem größeren Punkt zwischen vielen leuchtenden Punkten, Schnuppe einer Schnuppe einer Schnuppe eines Sterns. Denkt an Kant, das moralische Gesetz in mir, der Sternenhimmel über mir, oder so ähnlich. Aber was, wenn in einem selbst nichts Gesetztes, Ruhiges ist, weswegen man auch den Himmel nicht als Spiegel eines erhabenen Prinzips wahrnimmt? Wenn man selbst chaotisches Durcheinander beherbergte, eine Signifikantenkette glimmender Sterne, die an kein Ende kommt, ein Geschwür, ein rhizomatisches Geflecht, erglühend durch energetische Funken, mal hier, mal da, beizeiten durch Kurzschlüsse von Energieexplosionen in völlige Dunkelheit stürzend. Denn selbst der Unterschied zwischen den Wogen des Wassers und dem schwarzen Himmel sind bei Dunkelheit nicht zu erkennen, eine Unendlichkeit kippt in die andere und: Funken, Wasser, jeder weiß, da muss es einfach knallen und zischen. Das Boot mit den schwarzen Segeln krängt, Wasser dringt an Deck, unterspült die Füße, Gischt spritzt in die ausgehöhlten Augen, die Sterne tanzen mühelos und fern an einem schwarzen Himmel. ||| Seht! Nun steht er triefend naß! / Ei! das ist ein schlechter Spaß! / Wasser läuft dem armen Wicht / Aus den Haaren ins Gesicht, / Aus den Kleidern, von den Armen; / Und es friert ihn zum Erbarmen. ||| Sein langes schwarzes plattes Haar, das im Kerzenlicht glänzt, als sei es tatsächlich durchnässt, die Schatten auf der Stirn, neben der länglichen Nase, um die Augen herum, durch den Lichtschein leicht flackernd, sein Oberkörper hängt weit über das Geländer gebeugt. Vielleicht solltest du in meine Augen sehen, nicht nach unten, nicht nach innen und nicht in einen Himmel, flüstert Hanne leise und ihre Stimme klingt rau und durchbrochen. Ihr auf ihm verweilender Blick wendet sich nicht ab. Er rührt sich eine längere Zeit nicht, das Einzige, was sich regt, sind noch immer die tanzenden Schatten, wellenförmig durchgleiten sie sein starres, maskenartiges Gesicht. Dann aber wendet er sich halb zu ihr, den schwimmenden Blick geknickt auf ihre Hände gerichtet, die die Brüstung umklammern. Hanne, sagt er, ebenso leise wie sie selbst, traurig, flackernd, und er fasst sie nicht an. Hanne, glaub mir. Ich habe in deine Augen gesehen, ganz kurz, ganz tief, und ich habe gesehen, dass sie einem Menschen gehören, der sieht, um zu verstehen, der gibt, um zu geben, der liebt um eines anderen willen. Meine Augen, Hanne, die sind anders, es sind die eines Sehräubers. Schwarze strudelige Löcher mit Sogwirkung, sie ziehen dich ins Dunkel, unter eine Oberfläche, alles wird dir darunter verschwimmen, deine Sicht genommen werden, während sie dich aber niemals wirklich sehen werden, zumindest nicht jetzt, Hanne, denn sie finden keinen Halt. Du wirst mich nicht retten können, daher werde ich nicht hinsehen dürfen. Ich würde dich hinein-, ich würde dich hinunterziehen. Sie schweigen beide. Vielleicht hätte sie geweint, wäre es unerwartet gekommen. Dann würden sie jetzt in ihrem gemeinsamen Salzwasser treiben, wortlos, planlos und trostlos, während sie unter seinen brüchigen Kiel geriete, so bleibt sie stumm an seiner Seite, ohne Berührung an einer Brüstung, unter einem unergründlichen Himmel ohne Mond und sein trüber Kahn verschwindet einsam in den Schatten der Nacht.