Effugium

Dana Shirley Schällert

Seine Augen sind trüb wie modderiges Nordseewasser. Er sitzt in der Mitte zwischen zwei elterlichen Lautsprecherboxen, die Ohren weit aufgesperrt wie immer. Das ist das Problem. Er kann sich verschließen, die Augen trüben, dass sie nichts mehr sehen, einfach nur starren. Aber diese verflixten Ohren, denen er mal, als er allein dagelegen hat im dunklen Zimmer und als die Stimmen wieder so hoch und schrill und tief und laut und unerträglich gewesen waren von draußen, ja, denen er mal Namen gegeben hat (Tom und Jerry), die sind immer weit aufgesperrt. Das meiste, was aufgesperrt ist, lässt sich schließen: Türen, der Mund, selbst Muscheln. Die schließen sich selbst ein, wenn Gefahr droht (ohne ihren Deckel sind sie nur eine schleimige, verletzliche Glibberei, in der ein Herz schlägt). Er hätte so gern Ohren wie Muscheln. Man sagt doch: Ohrmuscheln. Oder eine Schnecke, die gibt es doch auch im Ohr, nicht wahr? Schnecken ziehen sich zum Schutz in ihr Haus zurück. Er erinnert sich an das Bild vom Ohr aus Bio. Sein eigenes Ohr scheint ohne Muschel, ohne Schnecke. Aber ganz viel Trommelfell gibt’s und da war auch was mit einer Pauke … und einem Hammer, der auf einen Amboss haut. Von alldem hat er wohl zu viel bekommen. Zuerst hat er versucht, sie sich zuzuhalten, die Ohren, als die Wände zu beben schienen. Denn Schall macht Wellen (Physik) und die machen Druck. Aber das hat nichts gebracht, bringt nie was. Er denkt sich, dass die Eltern wohl absichtlich größer sind als er, weil sie sich dann anschreien können, ohne dass er im Weg ist. Trotzdem nehmen die Schallwellen aber immer den Weg durch seine Ohren und prallen in der Mitte, hinter seinen Augen, zusammen. Das gibt oft einen Schmerz im Kopf. Und darum ist er auch sehr froh, dass er weiß, wo die Mutter die Tabletten hintut, die eigentlich nicht für Kinder sind. Damit ist der Klang etwas breiiger, wie wenn Wasser in den Ohren ist. Zu Hause flieht er meist in sein Zimmer vor die auf Max gedrehte Playsi. Oder steckt sich Earpods in die Ohren. Am liebsten jedoch schleicht er heimlich die Treppen runter – zu dem Mann. Eigentlich komisch, dass er die Sachen von vorn überhaupt hört, denkt der Junge gerade, obwohl er ja nur zwei Ohren hat – eins für den Vater, eins für die Mutter. Nun aber tönt die Lehrerin da vorn auch noch, schnell, verzweifelt, und sie schwenkt die Hände, und er glaubt, sie hat was von „abwesend“ und „kommt nicht an ihn ran“ gesagt, und er denkt sich, seine Eltern streiten sich bestimmt gerade drum, wer schuld ist, mal wieder, und dabei geht es gar nicht um ihn, sondern nur um Schuld, Schuld, Schuld, es gibt Wogen und Flut, alles durchgewirbelt. Die Stimmen liegen übereinander, mal überschneiden sie sich, jede will gehört werden, ein einziger Matschbrei aus Geräusch, wie wenn der Mann an der Orgel alle Tasten und die Pedale an den Füßen gleichzeitig drückt. Ganz hoch und ganz tief und lang, und alles ist irgendwie Ton. Nur dass dies hier nicht schön ist. Wie bei der Orgel. Der Mann wohnt unten im Haus, hat ihn mal in die Kirche mitgenommen, weil wieder keiner zu Hause und der Flur so kalt gewesen ist. Der Mann hat ihn damals auf seinen Schoß gesetzt und ihn die Tasten drücken lassen. Das ging leicht und es löste sich ein gewaltiger, mutiger Ton, der ihn aber keinesfalls erschrecken ließ. Der Mann hat ihn, den Jungen, nachdenklich angeschaut: Hör mir zu, ich spiel dir was. Dann hat er, der Junge, danebengestanden und die riesigen Röhren mit den Löchern, die komischen Knaufe an den Seiten und die perlmutternen Tasten angeschaut, darauf die Finger des Mannes, die zappelten wie wild. Und es ist plötzlich dieser Lärm gekommen, viel lauter noch als der einzelne Ton, dieser herrliche Lärm, der nicht nur in den Kopf ging, sondern bis in die Zehen, dieses klangliche Gewimmel, das er sich jetzt immer vorzustellen sucht, wenn es um ihn herum laut wird. Aus Keifen wird dann das Pfeifen aus den Röhren und aus dem tiefen Grollen des Vaters werden dumpfe bodenlose Töne, die seinen Herzschlag zu verlangsamen scheinen. Mach das nochmal!, hat er den Mann gebeten, als dieser fertig gewesen ist. Denn sofort, als der letzte Ton des Orgelspiels den Kirchraum leer zurückgelassen hat, ist er wieder in seinem Kopf gewesen, der schlimme Lärm, der böse Lärm, das unauslöschliche Echo des echten, der sofort wieder da wäre, wenn er nach Hause käme. Noch einmal, bitte: Wie die eine Stimme die andere jagt, immer weiter, und sie sich kriegen und finden und immer wieder, bis sich am Ende alles in einem tiefen Ton beruhigt, in dem aber alles andere noch mitklingt. Doch es ist außen still und innen laut geblieben. Wir müssen leider wieder zurückgehen, hat der Mann gesagt. Vielleicht ist deine Mutter schon da und sorgt sich. –  Bitte nicht, hat der Junge gebettelt. Ich möchte es noch ein einziges Mal hören. Und er hat damit gemeint, dass er eigentlich niemals damit aufhören will, es in seinen Ohren, in seinem Körper zu spüren. Das war Bach, hat der Mann gesagt. Und er hat gelächelt und die Finger des Jungen auf die vielen schwarzen Flüsse und Wirbel gelegt, die auf dem langen Notenbogen standen, über den Tasten, als sei es eine Blindenschrift. Das gefällt dir? Und jetzt, wo er hier sitzt, da versucht er, ganz doll daran zu denken. An die Hände des Mannes und seine arbeitenden Füße, wie sie so etwas Schönes angestellt haben, daran, wie der ganze Raum aus Klängen bestanden hat, die zusammengehören, die alles zusammenfügen, alles mitreißen, dass er wie in einem Meer sitzt, das ihn forttreibt. Dass er die Noten sogar gefühlt hat, als er sie anfassen durfte, dass er gemerkt hat, dass darin eine Kraft ist, die er jetzt irgendwo in seinem Körper trägt. Die ist auch durch diese Ohren gekommen. Unwillkürlich berührt er sie jetzt. Er versucht, die Musik, die irgendwo ganz hinten in seinem Kopf ist (vielleicht ist da doch eine Ohrmuschel, die wie eine Schatztruhe ist, mit einer Perle drin) nach vorne zu holen und wippt mit seinem Kopf, wiegt sich. „Autistisch oder so“, hört er im Nebel, „Konzentrationsprobleme“. Die Autofahrt zurück ist noch mal schlimm, da wackelt und ruckt es in den Bässen und die Bremsen quietschen grell und der Kopf seiner Mutter fliegt gegen die Glasscheibe rechts. Das sieht er aber nur aus den Augenwinkeln und im Haus flüchtet er sich gleich nach unten, zum alten Mann. Da ist er gern, seit der Sache mit der Orgel. Der Mann hat aber in der Wohnung keine richtige, nur so ein kleines kümmerliches Ding, das seinen Zweck nicht richtig erfüllt, denkt der Junge. Man kann es sogar auf leise einstellen. Leise. Pfff. Das heißt ja nur, dass doch wieder alles andere lauter ist. In Südkorea, hat der Mann mal erzählt, da gibt es eine Orgel, die zugleich das lauteste Musikinstrument der Welt ist. Sie steht unter freiem Himmel und heißt vox maris – die Stimme des Meers. Der Mann hat nicht nur viel Wissen, sondern auch eine Menge CDs. Und da ist was viel Besseres drauf als in seinen Playlists, die er mit den Jungs in der Schule hört und bei denen man gelangweilt gucken muss, wenn man sie hört. Nämlich die Musik aus der Kirche. Bach ist der Beste, sagt der Mann. Ja, findet der Junge. Auf jeden Fall. Bach kann nämlich die Wirklichkeit, genau wie sie ist, zu Musik machen, denkt der Junge. Und dann wird aus dem Schrecklichen auf einmal was Schönes. Und dann sitzen sie nebeneinander auf dem alten Sofa, starren die Wand mit komischen Bildern aus Stoff an, die aussehen wie Fell. Auf einem ist ein Leuchtturm drauf, der kitschig aussieht. Hat meine Frau früher gemacht, sagt der Mann. Und wirkt ein bisschen verloren. Er ist wohl traurig, dass die Frau nicht mehr da ist. Wahrscheinlich ist sie tot. Der Mann ist ja schon alt, er hat ganz weiße Haare und einen schiefen Rücken. Gefragt hat der Junge aber nicht. Er findet es schön zu glauben, dass der Mann traurig ist wegen der toten Frau. Die beiden reden kaum, hören zu. Der Mann sagt Fremdwörter. „Polyphon“, sagt der Mann. Und „Permutation“ und „Das ist die Kunst der Fuge.“ Der Junge mag es, wenn der Mann diese eigenartigen Wörter gebraucht, die die Dinge so anders sagen, als er es gewohnt ist. Fugen hat er vorher nur von den Fliesen im Bad gekannt. Einmal fragt er den Mann, ob er mit seiner Frau denn auch die Fugen gehört habe, damals, als sie noch da war. Nein. Der Mann lächelt versonnen, sein Gesicht ist wie nach hinten, ganz weit nach hinten gekehrt, als sei er wie weit weggefahren in seinem Kopf. Astrid und ich haben am liebsten miteinander geschwiegen, die schönste Stille. Die Musik kam erst später, als die Stille einsam wurde. Stille. Denkt der Junge in ungebrochener Lautstärke, im ständigen Echo. Wie sich die wohl anfühlt? Und er fragt sich, ob man wohl, wenn man nach Rückwärts fliehen kann, wie der alte Mann das mit der noch älteren Musik wohl tut,  … also, ob das wohl auch nach vorne geht. Und dann fragt er das den Mann. Und der sagt, dass es einen russischen Komponisten gibt, der Muschel heißt, wie die Muschel, naja, sagt er, wahrscheinlich wird es anders ausgesprochen, er könne halt kein Russisch. Und der ist noch gar nicht lange tot. Er hat auch Fugen geschrieben für die Orgel. Er, der Alte, hat aber leider keine CD zu Hause. Da fällt dem Jungen was ein. Er holt sein Handy aus der Tasche und tippt was ein. Eine neue Musik fließt durch den Raum. Der alte Mann lächelt den Jungen an und seine Augen sind nass. Das ist das eine, sagt er leise in die Musik hinein. Ich kann es dir aber auch zeigen. Überrascht mustert der Junge seine dünnen, blassen, blauädrigen Finger, die Wattwürmern gleichen. Denn der Alte nimmt diese Finger, krümmt sie, nur ganz sacht und als seien sie etwas, womit man sorgsam sein müsste, und lässt sie über die merkwürdigen blauen Fliesen seines Stubentisches tanzen und gleiten, als tauchten sie ein in deren blassmarmorierte Musterung. Holt Luft, dann pfeift der Dux nah an des Jungen Ohr vorbei, ganz leise, sodass der Windhauch die Ohrmuschel leicht streift. Morgen wird er ihn in die Kirche begleiten.