Herr Gern-Not und die Gern-Wehra
Dana Shirley Schällert
Das ist der Anfang des Endes vom Anfang. Wera geht steif aufgerichtet am Ufer der Elbe entlang. Der Wind schafft es nicht, die Feuchtigkeit auf ihren Wangen zu trocknen. Es sind keine Tränen. Gernot mags gern kompliziert, denkt Wera. Irgendwie ist es mit ihm nie einfach, obwohl Liebe doch eigentlich was Leichtes sein sollte, oder etwa nicht? In der ersten Phase zumindest, wenn man verliebt ist. Herr Gern-Not, lacht ihre Freundin Ruth, das passt ja. Herr Gern-Not und die Gern-Wehra. Bist nämlich selbst schuld mit deinem ständigen Geheule. Wer ist schon so doof und verknallt sich in seinen uralten Prof, der auch noch verheiratet ist. Ist doch klar, dass da nix Gutes bei rauskommt. Bist doch sonst so schlau!
Erster Aufzug, enthält nämlich eine Exposition, aber …:
Wir können uns nur selten und nur nachts sehen, denn ich habe ein Kind.
Inhalt: Nach dem ersten Kuss kommen Mails wohldosiert und in unregelmäßigen Abständen. Die Zeiten sind nicht abschätzbar, die Länge variiert, nichts ist erwartbar. Treffen werden in Aussicht gestellt und verworfen. Der Grund: das Kind, Heinrich, der unter der Woche bei ihm lebt. Sie solle sich gedulden, Ungeduld sei unreif. Er würde sie ja genauso gern sehen, berühren, lieben, aber wahrhafte Liebe zeige sich in der Geduld. Selten ist es tagsüber möglich, häufig eher nachts. Sie muss leise sein. Sein Schlafzimmer liegt direkt unter Heinrichs Kinderzimmer. Weil man sich eigentlich laut lieben muss, um die Intensität des Fühlens hörbar zu machen, stopft er sich beim Akt ein Kissen zwischen die Zähne und grunzt geräuschvoll hinein. Das Leid aufgrund der Umstände gedämpfter Lust steht in seinen feuchten Augen. (Ruth: Armer großer Junge …)
Dabei ist das ja gar nicht das Thema, also, dass er ihr Prof ist. Also, Reiz des Verbotenen, das Komplizierte, all der Scheiß. Nein, sie ist ganz sicher keine Gern-Wehra. Ihre Schwester, ja, die ist so drauf, die ist nämlich Schriftstellerin und verliebt sich, denkt Wera, absichtlich in die Falschen. In Narzissten, in Borderliner, in Depressive, denn dann gibt’s ne Menge absehbares Unglück, über das man schreiben kann. Wera will glücklich sein. Mit Gernot. Dem eloquentesten, geistvollsten und gebildetsten Mann, dem Wera je begegnet ist. Das Glück, von diesem Mann gesehen und sogar angefasst zu werden, elektrisiert, es er-, es enthebt sie. Nein, ihr geht es nicht um das Leiden vor den wenigen wundervollen Momenten des Sich-Treffens, es geht ihr um diese Momente selbst. Die Offenbarung. Die Erfüllung. Die Epiphanie totalen Glücklichseins, von der sie hofft, dass sie in irgendeiner Zukunft das Augenblickliche transzendieren könnte. Und dafür ist sie bereit, sehr, sehr viel zu opfern. Ihre Vorstellung von einer Zukunft mit eigenen Kindern (Gernot ist zu alt dafür, er hat auch bereits ein Kind), von einem Mann, den sie wirklich für sich haben wird (Gernots Sohn ist erst neun und er wird, bis er groß ist, immer ein wichtiger, vermutlich der wichtigste Teil seines Lebens sein), auch ihre Leichtigkeit. Denn mit Gernot zusammensein, das ist nicht leicht, es ist dessen Gegenteil. Er ist ein Schwerenöter, hat Ruth grinsend geraunt. Also, in einer ganz neuen Bedeutung des Wortes. Weil die Not eben bei ihm immer ganz besonders schweeeer ist. Ein tragischer Held. Mit ordentlich Fallhöhe. Eigentlicher Wortsinn: großes, egoistisches Kind.
Zweiter Aufzug, naja, also … wie oft er sie eigentlich aufzieht, ist wohl kaum quantifizierbar …:
Ich kann meiner von mir getrenntlebenden Frau nichts von dir erzählen, weil sie plötzlich schlimm erkrankt ist.
Inhalt: Wera ist traurig und beunruhigt. Sie möchte nicht seine Affäre sein, das hat sie von Anfang an deutlich gemacht. Weiß eigentlich jemand von mir? Warum weiß niemand von mir? Warum denn junge Menschen immer alles so festklopfen müssten, so sei doch das Leben nicht. Wer dauernd Begriffe und Sicherheiten brauche, der sei nur nicht in der Lage, mit der Vielfalt und Vielschichtigkeit des Lebens klarzukommen. Warum weiß sie nichts von mir, diese getrenntlebende Frau? – Sie sei plötzlich schwer an einer Darmgeschichte erkrankt und liege auf der Intensiv. Man sollte sie nicht im Geringsten aufregen. Natürlich sei es auch für ihn schwer, am liebsten würde er ja sein Glück, sie zu kennen, laut herausschreien in die Welt, aber … die Rücksicht gebiete es, hier taktvoll zu sein. Er sei in der Lage, das auszuhalten. Sie sei noch sehr jung, aber er hoffe, dass sie das auch könne. (Ruth: Hahaha, was für ein Schmierentheater … Wie lange willst du dich denn noch verarschen lassen?)
Ruth hat ein ganz bisschen Recht, auch wenn Wera es überhaupt nicht mag, wenn Ruth tut, als sei sie ne Kritikerin, die im Publikum sitzt und schon in der Pause geht, weil sie in ihrer Überheblichkeit meint, alles kapiert zu haben. Aber echte Menschen sind nicht so einfach, denkt Wera, die sind nicht einfach nur fies, die haben ja ne Biografie, ne psychische Disposition und so. Ja, Gernot kann kleine Gesten, Dinge groß machen. Er hat einen Sinn zur Theatralik und zur Selbstdarstellung. Er kann die Schirmchen einer Pusteblume mit dem glücklichen Ausdruck seelenerlösender Befreiung in die Luft blasen und wenn sie Sex haben, dann stöhnt er ihren Namen übertrieben laut, überhaupt ist er sehr laut, es ist alles sehr demonstrativ, irgendwie inszeniert. Aber da er all diese Inszenierungen ihr widmet, dieses Kleine ganz groß macht, verzeiht sie ihm das. Fragt sich, wann all dies in Normalität übergehen wird, wann und wie er selbst ist, wann das mit ihnen wirklich so richtig losgeht, sie die Exposition endlich verlassen.
Ein weiterer Aufzug, pars pro toto, der Kreisel rotiert:
Vielleicht wandere ich mit meiner Frau nach Neuseeland aus.
Inhalt: Laube im Park. Kuscheln, Romantik, dann: Pass auf, ich muss mit dir etwas besprechen: Ich wandere vielleicht nach Neuseeland aus. (Ruth: Whaaaat???) Wir haben da vor langer Zeit einen Antrag gestellt, Marit (seine Frau) und ich dachten damals selbst nicht, dass das was wird, es gibt einige Bewerbungsrunden, die haben sehr strikte Einwanderungsvorschriften, und wie es aussieht, wird es wohl doch klappen. Mich selbst brauchen die da nicht, aber Anästhesistinnen (= Marit) werden gesucht. Heinrich und ich dürften mit. (Ruth: Bäääähm!!!) Sie schweigt, denkt wohl auch Bääähm, fragt dann: Wann weißt du denn sicher, ob du gehst? Was wird aus uns? Er: Es gibt Maßstäbe, die sind größer als du und ich. Ich denke an mein Kind. Heinrich wird mit Marit gehen. Und ich, ich muss natürlich mit Heinrich gehen. Was wäre ich sonst für ein Vater? Wie egoistisch wäre es, wenn ich jetzt nur an mein Glück denken würde – an dich und mich. Er nimmt ihre Hände, küsst sie. Aber es bleibt noch Hoffnung. Vielleicht fliegen wir noch in der letzten Runde raus. Sie schweigt.
Dieses Drama, als dessen Teil sie sich in Gernots Gegenwart fühlt (und auch, vielleicht gerade in seiner Abwesenheit, dann wird sie nämlich zum Prototyp der Sehnenden, zum Gretchen am Spinnrade), ist anstrengend. Sie weiß nie, in welchem Aufzug sie sich befindet, scheitert, wenn sie der stümperhaften Handlung ein klassisches Schema überzustülpen versucht, weil der Plot einfach keinerlei sinnvolle Dramaturgie verfolgt. Wenn es überhaupt irgendwie gelesen werden kann, dann mehr wie ein unfertiger Büchner, der irgendwie zusammengepuzzelt werden muss, absurdes Theater oder irgendwas ganz Modernes, das auf Konfusion als Wirkung angelegt ist. Das Drama umgibt Gernot wie eine ewige Maske. Ständig wartet sie auf den Höhepunkt, eine wahrhafte Wendung, die zu einer Klärung, einer Katharsis führt, stattdessen häufen sich neue Konfliktstränge, Momente, die sie als retardierend empfindet (die Heldin, sie, steht kurz vor dem Eintreten der Katastrophe), für ihn, Herrn Gern-Not, wirken sie auf merkwürdige Weise erregend. Verzögerung, Warten, Umstürze, die sie keinen Meter voranbringen, die eigentliche Umkehr bleibt aus.
Aufgezogen wie ein nimmermüdes Uhrwerk, schreitet die Handlung voran ins Dunkel, die Zeiger drehen durch. Es wird wer austicken.
Solltest du wirklich schwanger sein und nicht abtreiben, dann … keine Ahnung. Aber ich wäre auf jeden Fall nie mit dir ins Bett gegangen, wenn ich gewusst hätte, was du für eine konservative Einstellung hast!
Inhalt: Sie hat immer auf Verhütung geachtet. Anfangs. Später ist das Glück des Ereignisses so groß, dass sie nicht mehr richtig nachdenkt, sie denkt ja sonst schon immer viel zu viel. Ihre Tage bleiben aus. Gekommen ist er zwar nie in ihr, er pflegt jenen für sie so unbefriedigenden Coitus interruptus, aber natürlich weiß sie, dass das keine Garantie ist. Sie macht sich Sorgen. Wie soll das werden? Sie ist noch mitten im Studium, hat kein Geld. Er wird vielleicht nach Neuseeland auswandern, sie ist nicht bereit. Für nichts. Ist ja noch nicht einmal bereit, zu warten, wie soll sie dann bereit sein, etwas zu erwarten, das ihr Leben vollends auf den Kopf stellen würde. Dennoch: Sie weiß, wenn es so wäre, sie würde es behalten wollen. Sie sagt es ihm, erzählt von ihrer Sorge, sie ist erst knapp drüber, aber normalerweise ist die Periode immer pünktlich. Er schweigt. Wird rot. Steht auf, geht weg. Kommt wieder. Brüllt: Solltest du wirklich schwanger sein und nicht abtreiben, dann … keine Ahnung! Aber ich wäre auf jeden Fall nie mit dir ins Bett gegangen, wenn ich gewusst hätte, was du für eine konservative Einstellung hast! Mittelalterlich ist das! Ich erwarte, dass du es wegmachst! (Ruth geht ab.)
Ja, apropos Höhepunkt, denkt Wera: Das ist ja auch so eine Sache. Ja, er schreit laut ihren Namen, er grunzt, er röhrt, aber dann hört er ganz plötzlich auf, erhebt sich, macht was anderes. Ohne Erklärung, ohne Nachfrage, ob es für sie ok ist. Und sie liegt da und weiß nicht, was sie sagen soll. Sie hat sich gefragt, ob es vielleicht Erektionsprobleme sind und er das überspielt. So jung ist er ja immerhin nicht mehr und sie hat keine Ahnung, wann das bei Männern möglicherweise störungsanfällig wird. Vielleicht ist es auch nur eine Machtdemonstration. Vielleicht gefällt es ihm einfach, sie zappeln, hängen zu lassen, indem er die Regeln bestimmt. Stagnation. Während sie hier von einem geradezu paradox wirkenden Überspielen im Sinne eines Herunterspielens begleitet wird, beobachtet sie während anderer Szenen das beschriebene Überspielen als Overacting, als übertriebenes Pathos. Er selbst übernimmt stets die Rolle des vom Schicksal Herausgeforderten, der die Spannung des Mangels aufgrund seiner übermenschlichen Charaktergröße auszuhalten imstande ist, während sie in ihrer jugendlichen Unreife ständig in Tränen ausbricht, da sie nicht nur ihn, sondern sie beide, ihr fragiles kleines, tiefes Glück, begehrt, es auf dem Prüfstand sieht. Und aus diesem ihrem hoffenden Harren schwingt er sich auf mit seiner Lebenserfahrung, mit seiner Größe, leidet und hält das Leid tapfer in der Demonstration seiner Übermacht aus.
Ein Aufzug, von dem man hoffen würde, es wäre der letzte. Ist er aber nicht.
Bin ich doch nicht. – Bist du doch nicht? – Nein. – Und ich wollte mich entschuldigen, mich hat das alles so aufgewühlt, ich war so … überwältigt, dachte, ich könnte als Zweifachvater, gerade in meinem Alter, nicht genügen, ich …
S.o. In der Nacht hatte sie zu bluten begonnen. Auf das Gespräch folgt ein überwältigender Liebesbrief. Als sie ihm am Abend zum Zeichen ihrer Versöhnung eine Blume an die Tür stecken will, sieht sie ihn durchs Fenster mit einer anderen Frau. Halbnackt. Er sagt, dass es seine Nachbarin ist, mit der er seit langem ein Verhältnis pflegt. Einsam ist sie, die Frau, ihr Mann vor einem Jahr verstorben, das habe er doch nicht einfach so beenden können, er … Sie schreit ihn an: Lügner! Schauspieler! Anti-Held! Dann spuckt er sie an. Mitten ins Gesicht. Ihre Augen werden groß, die wackligen Beine erheben sich, machen eine Kehrtwende, tragen sie wie auf Stelzen davon. Am Ufer der Elbe entlang. Sie geht ab. Der Vorhang könnte fallen, wäre es nicht das Ende des Anfangs vom Ende.