Unter der Erde

Dana Shirley Schällert

Vereinzelt ragte einst sorgsam Angepflanztes tot zwischen grün wucherndem Unkraut hervor. Jenes streng streifenförmig angelegte Bild von Nutzpflanzen, einst Abbild der Geometrie eines Mondrian, war einer chaotischen Streuung gewichen, erinnernd an jenen kunstgeschichtlichen Unfall der Aleatorik Pollocks. Alles wirkte besudelt. Das Grässlichste waren die Haufen, sich in ähnlicher Auflehnung gegen Ordnung, Harmonie und Struktur wie hässliche Erdpickel über den gesamten Garten verteilend. Ihr letzter Besuch war bald ein Jahr her. Die Besuche der Mutter hatten sich ins Krankenhaus verlegt. Mona dachte an vergangene Sommertage, gefüllt von gemeinsamer Schweigsamkeit.

Sie war eine großartige Gärtnerin gewesen, die Mutter. Mona hatte diese Begabung nicht geerbt. Ihr Daumen war zart und trocken wie derjenige einer Frau, die sich geistiger Arbeit hingab, die schrieb, dachte, eher zu viel als zu wenig Seife und Desinfektion benutzte, keinesfalls grün. Sie erinnerte sich an die stumme Tatkraft der Mutter, Mona hatte ihr Strenge, Disziplin und Willensstärke zu verdanken. Mit Ende 30 konnte sie auf beachtliche Erfolge zurückblicken. Wenn sie mit der Mutter hier gesessen hatte, in streng kalkuliertem Abstand zweier parallel zueinanderstehenden Stühle, monadisch geschieden, dann hatte sie deren gewohnte Bewegungen effizienter Geschäftigkeit mit unbestimmtem Gefühl nachgezogen, Erinnerungen an eine Kindheit darin gesehen. Abends war sie nach knapper Verabschiedung wieder gegangen.

Nun stand sie hier. Allein. Blickte mit Unverständnis auf die Verwüstung. Die Mutter war von der Krankheit geradezu aufgefressen worden. Erst am Ende der Woche würde sie unter dieselbe Erde gebracht werden. Mona merkte, dass es ihr hochkam – Mageninhalt, Zorn. Der Garten, dieses Vexierbild, zog eine widerliche Fratze. Wie konnte er es wagen, sich angesichts des noch so frischen Todesfalls seiner Besitzerin, die ihn gepflegt, ihm Struktur gegeben hatte, sich geplagt, um ihm sein Bestes abzutrotzen, wie konnte dieser Garten es wagen, die Hand jener Frau derart mit Hohn und Nichtachtung zu verspotten! Die Übelkeit nahm zu, Mona hatte Mühe, die Kontrolle zu behalten, hätte sich gern gesetzt, konnte den naheliegenden Gedanken an einen Stuhl nicht denken. In einem plötzlichen Anfall merkwürdiger emotionaler Erregung zertrampelte sie hingegen mit hohen Hacken fünf dieser Haufen, die Fäuste geballt, als wollte sie boxen, fünf dieser Auswürfe, Vorwürfe, Lästerungen an jene hingebungsvolle Domestizierung durch ihrer Mutter Hand. Wie hässlich es aussah, wenn die bloße Erde den einst so blanken Rasen durchbroch, herausquoll wie Exkremente! Und wie anders hatte sie doch, frisch entkrautet und glatt, zwischen den jungen Möhren und Kartoffelsprossen gewirkt! Das Andenken der Mutter durfte nicht derart beschmutzt werden!

Die andere Frau hatte von drüben zugeschaut. Aus dem Nachbargarten mit dem Klatschmohn. Sie kannte sie vom Sehen. Ihre Mutter war eine zurückhaltende Person gewesen, die nicht gern Kontakte schloss. Dass Mona nach dem Auszug, Versündigung an der mütterlichen Aufopferung, wöchentlich bei ihr erschien, war das Mindeste. An Mutters Lebensführung hatte sich nicht viel geändert. Mona brauchte nicht viele Worte sowie Gesten, um die andere Frau in Kenntnis über ihr Problem zu setzen: Zerstörter Garten! Maulwürfe! Das Andenken ihrer Mutter! Die Frau, eine ältere Dame, stand kurz darauf auf Monas Seite des Zauns. Als Mona das Chaos aus den Augen der Fremden heraus erneut durchlitt, war es, als wüte der Maulwurf nicht nurmehr dort unten im Boden, sondern ebenso unsichtbar in ihrem eignen Körper, im Magen, als kröche er mit seinen Schaufeln durch Gedärme und sogar bis ins Gehirn. Es schmerzte sie schwindelig. Der Geschmack von Erbrochenen erfüllte Monas Mundhöhle, krampfhaft schluckte sie. Die Frau bat, sich doch setzen zu dürfen, schien dabei mehr an Mona als an sich selbst zu denken. Auf dem Boden zwischen hohen Gräsern spürte Mona bald eine braungefleckte Hand auf der eigenen, schauderte, als sie an jene der Mutter dachte, hielt still. Eine Hand, deren Berührung sie nie gekannt hatte. Fast nie. Der Mutter vorsichtiges Lächeln war immer Lohn harter Arbeit gewesen. Bald würde die Mutter unter dieser Erde sein. Sie sei eine sehr eigene Person gewesen, ihre Mutter, sagte die Frau. Sehr verschlossen. Sie habe sie beim Gärtnern beobachtet. Sehr erfolgreich. Sagte sie. Sehr still. Sehr strikt. Die Pflanzen seien nach der Mutter Wunsch und Willen gediehen. Sie habe alle Tricks der Schädlingsbekämpfung und der Beschleunigung des Wachstums gekannt. Mona nickte, als die Tränen ihr stumm über die Wangen liefen, irgendwo den Boden berührten. Tränen erweckten keine Tote zum Leben, die noch nicht einmal unter der Erde lag. Ob sie wisse, dass ihre Mutter spezielle Maulwurfsgitter habe einsetzen lassen? Der gesamte Garten sei damit von unterwärts gesichert, um jene untergründigen Wesen fernzuhalten. / Aber da seien doch überall Hügel! Da sei ihre Mutter aber nicht sehr gründlich gewesen! Vielleicht nachlässig geworden! / Neinnein, beruhigte die Frau. Das sei sicher nicht das Problem, eher werde jedes Material mit der Zeit spröde und löchrig. Vorsichtsmaßnahmen wie Sperren seien nie in der Lage, auf Dauer gegen natürliche Kräfte erfolgreich zu wirken. Irgendwann suche die Natur sich einen Weg, auch der Maulwurf. / Aber es gebe bestimmt wirksame Gifte gegen derlei Ungeziefer, wand Mona ein. Die gäbe es wohl, sagte die alte Gärtnerin, und dass ihre Mutter sicher einiges davon in ihrer Hütte stehen habe. Maulwürfe seien jedoch geschützt. Man dürfe sie nicht vorsätzlich töten. / Geschützt? Schädlinge? / Nun: Maulwürfe sorgten für biologisches Gleichgewicht. Sie fräßen Insekten und Schnecken, belüfteten die Wurzeln von Bäumen, lockerten den Boden, seien regelrechte Hilfsgärtner. Im Übrigen glaube sie jedoch, dass es sich bei den Unterwanderern gar nicht um Maulwürfe, sondern um Wühlmäuse handele, gegen die man sogar legal rabiat vorgehen dürfe: In der Mutter Garten wüteten und wüsteten sie augenscheinlich nach Belieben. Die künstlich geschaffene fressfeindfreie Umgebung und das Überangebot kultivierter Pflanzen, ohne dass es wild wachsende Wurzeln gäbe, führe dazu, dass die Mäuse nur diese fräßen, sich zudem ungehindert vermehrten. Andernfalls jedoch, gäbe es hier Fressfeinde wie den Maulwurf und ein breiteres Nahrungsangebot, könnten sie durchaus friedlich im Garten leben – eine hin und wieder abgefressene Pastinake, den ein oder andren Hügel vielleicht einkalkuliert. Monas Blick glitt über die Beete, den einst sorgfältig angelegten Rollrasen. Ekkeland Götze. Das Bild der Erde. Eins glich dem andern. Trostloses Brachland. Ihr Zorn verebbte, noch mehr Brachland. Doch jener Boden, auf dem Monas Füße standen, erschien ihr erschüttert und unstet, vielleicht weil sie spürte, dass darin, dass darunter Leben war. Wie viele Mütter lagen dort? Was war es, das erst sie auffraß und dann an ihren Töchtern knabberte?

Meinen Sie, sie hat ihren Garten geliebt?, fragte sie schließlich leise, spürte den warmen Druck der braungefleckten Hand. Sicher hat sie das. Wenn Sie bedenken, wie viel Zeit sie dem Garten gewidmet hat, jeden Tag war sie hier draußen: Ja, ich bin mir sicher, sie hat ihn geliebt. Mona nickte. Dachte an die Gitter, an das Gift, dachte an die Pflanzenreihen, die 1,0 ihrer Promotionsnote, den sterilen Boden, die Publikationen im letzten Jahr, die Wortlosigkeit, dachte an die schlaffe Hand ihrer Mutter, deren grüner Daumen ganz weiß gewesen war, an jene Berührung, die nur noch sie selbst hatte spüren können, ihren eigenen dumpfen Herzschlag, dachte daran, dass die Worte „Ich liebe dich“ vermutlich irgendwo im Giftnebel und hinter Sperren gelegen hatten. Was schlagen Sie also vor?, fragte Mona, flüsternd. Wühlen Sie die Erde auf, antwortete die Andere. Vergrößern sie die Löcher. Ein merkwürdiger Laut, der zugleich alle Wörter war, durchbrach Monas Mund, als die Übelkeit sich ihren Weg suchte.