Abenteuer in Grau

Dana Shirley Schällert

Woher soll ich denn wissen, wie Abenteuer geht, denke ich. Sie schaut mich an, stocksteifer Blick. Ich will mal ein echtes Abenteuer erleben. Einem fünfjährigen Kind kannste nicht sagen: Mach doch. Sie steht da, wartet, die Arme verschränkt, als wär sie die Mutter und ich das Kind. Wir waren doch gerade im Heidepark, sage ich. Das ist doch kein Abenteuer! Und im Zoo! Mama, was soll denn daran Abenteuer sein! Sind zum Drachensteigen an die Nordsee gefahren. […] Haben eine Nachtwanderung gemacht! […] Waren Geocachen! […] Du warst auf diesem Erlebnistag auf dem Bauernhof! […] Alpakaführung? […] Stockbrot am Lagerfeuer und OpenAir-Kino mit Beamer unten am Fluss? O Mama! Kein O im Sinne von [o:], eher so ein [⁠ɔ⁠], so ein kurzes, entnervtes wie: Rede ich eigentlich mit einer totalen Idiotin? Was meinst du denn mit Abenteuer?, frag ich verunsichert.  Na, halt sowas wie bei Drache Kokosnuss, wo ein Außerirdischer landet. Oder bei Zaubergarten, wo die Kinder rausfinden, dass der Nachbar magische Blumen züchtet. Oder bei … Okay, warte, wo soll ich denn bitte Außerirdische oder Zauberblumen herkriegen? „Einmal hin, alles drin“ ist schwer bei sowas. Selbst Jochen Schweizer kann ich vergessen. Keine Ahnung, Mama. Es soll halt ein echtes Abenteuer sein. Nix Nachgemachtes. Wir können ja spielen, dass unser Nachbar Zauberblumen züchtet. NIX Nachgemachtes. O Mama! Das M zieht sie lang wie ein Seil, auf dem ich zu tanzen habe. Guckt wieder so streng. Meine Güte. So hilflos hab ich mich noch nicht mal im Matheabi gefühlt. Und auch nicht SPIELEN! Ein ECHTES Abenteuer, Mama! Mit ECHTER Gefahr. Alter Schwede, du bist 5, denk ich mir. Ich meine, wenn man mit 50 denkt, mein Leben ist eingefahren und man will noch mal so richtig steilgehen und fährt dann irgendwohin Wildcampen oder sucht sich ne verbotene Liebschaft, ich meine, da kann man das irgendwie verstehen, ich denk ja selbst oft, könnt gern mal ein bisschen was anderes passieren, aber ich hab ja auch n Job und Familie und zahle Steuern und stehe morgens pünktlich auf und alles. Die aber sitzt da vor mir im Prinzessinnenkleid, mit dem sie im Kindergarten war und mit ihren Feenflügeln, auf ihrem vollautomatischen XXL-Plüschpferd und sagt: Mama! Was ist denn jetzt mit dem Abenteuer! Mann, denk ich, lass mal tauschen für n Tag. Du weißt ja gar nicht, wie gut du’s hast. Aber das kapieren Kinder eh nie, wenn man denen das sagt. Man reißt sich den A… auf, um rauszufinden, wo was los ist, was man mit denen machen kann, dass die später sagen: Mann, hatte ich ne schöne Kindheit! ECHTES Abenteuer, bitte. Ich starr mein Kind an. Meine Hände sind kalt und leer. Also …, also, ich weiß auch nicht … Und da fällt mir ein, dass ich noch dringend Brot holen muss, weil ich das auf dem Arbeitsweg vergessen hab. Ach, Sch …!, fluche ich verhalten, weil ich sehr auf den aktiven und passiven Wortschatz meines Kindes achte. Was ist denn, Mama! Neugierig springt sie vom Pferd. Tut mir leid, stammele ich, Brot vergessen, muss nochmal los. Ach menno! Sie schmollt. Das ist langweilig! Ich wollt es vorhin mitgebracht haben, vor dem Abholen, hab’s vergessen. Komm, wir ziehen uns an. Keine Lust! Sie krabbelt in ihr Zirkuszelt. Na los, du kriegst auch ein Rosinenbrötchen. Die finstre Miene löst sich etwas. Okay, na gut. Schwerfällig schleppt sie sich in den Flur. Jacke zieh ich aber nicht an. Und Schuhe auch nicht. Ich bleib in Hausschuhen. Gut, okay, Hauptsache, wir kommen los. Sie schlappt zum Auto, darf vorn sitzen. Das Wetter ist schön. Wir fahren aus dem Dorf raus, hier wohnt man mit Kindern besser, wenig Verkehr, viel Natur, es gibt einen kleinen Hofladen, die Kinder wachsen so ein bisschen ursprünglicher auf, haben wir uns gedacht, also nicht in sonem dreckigen Moloch, ein bisschen mit Bullerbü-Flair, man sieht manchmal sogar wen mit nem Esel über die Straße gehen, aber Brot gibt’s hier nicht. Muss man rüber in die Kleinstadt fahren, da ist ein guter Biobäcker. Als wir ankommen, ärger ich mich aber schon wieder. Ärger mich, weil ich vergessen hab, dass der Sch…-Bäcker hier ja erst um 3 aufmacht. Ist halb 3. Jetzt sitzen wir im Auto vor dem Laden und sie guckt böse. Was ist jetzt mit meinem Rosinenbrötchen? Später, der Laden hat noch zu. O Mama! Tja. Sie tritt gelangweilt gegen das Handschuhfach. Lass das! Warum? Nicht, dass das kaputt geht. Hab doch gar keine Schuhe an. Trotzdem. Aber kann ja so nicht kaputt gehen. Sie tritt weiter. Es nervt. Ich merke, dass ich langsam irgendwie innendrin richtig aggressiv werde, richtig sauer, weiß auch nicht, warum. Komm! Ich stoß die Tür auf. Das Wetter ist schön, lass uns zum Spielplatz gehen. Wir haben eine halbe Stunde. Das reicht. Laufen? Sie guckt mich wieder an, als wär ich geisteskrank. Tritt weiter. Ja! Laufen! Ich kling nicht mehr so nett, ich klinge sauer. Raus da jetzt! Ihr Blick wird irgendwie unsicher. . Sagt sie trotzdem, nicht mehr ganz so fest, aber ich will jetzt nicht mehr , ich kann jetzt nicht mehr , vielleicht auch, weil ich mich über mich selbst ärger, und ich geh rüber und zieh sie an den Elfenflügeln raus. Und dann steht sie draußen und kreischt, und ich schmeiß schnell die Beifahrertür zu und verriegel mit dem Schlüssel, und sie zieht an der Tür und kreischt und kreischt. Nee, also, ich geh jetzt. Sonst bleib eben hier! Und ich dreh mich um und weiß, dass ich sie am Ende natürlich nicht allein an der Straße stehenlassen würde, aber jetzt kann ich nicht mehr einknicken und aufmachen, muss hoffen, dass sie mir das glaubt, und rufe noch, um mich abzusichern (und meine Stimme klingt hart und gemein): Sonst kannste das aber mit dem Rosinenbrötchen vergessen. Und ich dreh mich extra nicht hin, lausche aber ganz genau und hör nix, und als ich mich doch gerade umdrehen will, da spür ich, wie sich die kleine Hand in meine schiebt, und da fällt mir ein, dass sie ja diese weichen Hüttenschuhe trägt, und dass ich sie darum nicht gehört hab. Und dass ich jetzt gerade mit ihr mit Hausschuhen zum Spielplatz laufe. Aber sagen: Ach, nee, dann gehen wir doch lieber zum Auto zurück und warten da, das geht jetzt nicht mehr. Dann denkt sie erst recht, dass ich nicht weiß, was ich will. Und dann fragt sie ganz leise: Mama, bist du mir noch böse? Und guckt mich an wie ein kleines Kind und ich merke, dass sich alles wieder viel besser anfühlt. Der Spielplatz ist komplett leer, komisch, das ist nie so. Wenn wir mal da sind. Oft ist wegen der Termine keine Zeit für sowas. Und als wir auf der Wippe sind, ich lass sie gerade oben verhungern und sie lacht ein bisschen, da seh ich hinter ihr den Himmel und der ist ganz dunkel, mit ganz schweren, bewegten Wolken, eine richtige Front, die ganz, ganz rasch voranzieht, und da versteh ich, warum keiner da ist, und ich könnt meinen Kopf auf die Wippe hauen, Kacke, ich hab ganz vergessen, den Wetterbericht zu checken! Wie konnte ich … Was ist eigentlich mit mir los? Erst vergess ich das Brot, dann geh ich mit dem Kind mit Hausschuhen … In dem Moment geht es los. Es sind nicht ein paar Tropfen, es ist ein Guss. Mamaaaa! Weder Schuhe noch Jacke! In Windeseile, noch bevor ich die Wippe absenken kann, ist sie total durchnässt. Das Auto zu weit. Panisch seh ich mich um, sie rennt schutzsuchend auf mich zu. Mamaaaa! Ich seh den Zug, so einen kleinen Spielzug, eine Lok und zwei Waggons aus Holz, der mittlere ist mit einem Dach aus Holzbohlen, alles Kindergröße, egal, Scheiß drauf, ich reiß meine Jacke auf, schnapp sie mir, nehm sie drunter an meinen Bauch, und zusammen, sie vor mir herschiebend, rennen wir zu dem mittleren Waggon. Sie kriecht zuerst hinein, ich hinterher. Das Dach ist nicht dicht, an mehreren Stellen tropft es arg hinein, aber es ist alles besser als draußen, wo die Welt grad untergeht. Ich zieh die Jacke nun ganz aus, auch meinen Pulli, drunter trag ich nur ein Shirt, aber mir ist noch warm, ich rubbel ihr die Haare und dann leg ich die Jacke drüber. Sie ist ganz still und ich zieh sie ran und steichel ihr über die roten Wangen. Die Füße sind auch ganz kalt, die steck ich mir unters Shirt, ich spür sie eisig unter meinem Busen. Da lacht sie. Mama, du bist eine lustige Heizung. Und da muss ich auch lachen. Einen Moment lang sind wir leise und schauen aus den Fenstern raus in den Regen, man sieht fast nur Grau und ich spüre, wie sie warm wird. Das kann noch dauern, sag ich ins Grau und sie sagt: Das macht nichts und drückt sich fester ran. Und da krieg ich die Idee, mal zu schauen, was in meinen Jackentaschen drin ist. Und als ich krame, da find ich eine angebrochene Reihe Traubenzucker, die muss ich letzten Herbst in der Apotheke mitgenommen haben. Und als ich ihr einen in dem Mund stecke – Augen zu und nicht gucken – da strahlt sie und macht Hmmmmm! Und da ist noch ein Pixi-Buch, leicht angeschimmelt, ich glaube, ich hatte es mal an der Nordsee gekauft, als wir Drachensteigen waren. Wir habens gar nicht gelesen. Es war eine von diesen Habenwollen-Sachen, die man kauft und vergisst. Jetzt hol ichs raus, schlag es auf und sie ruft: Du hast ein Buch mit! Und ich les ihr vor. Es tropft auf das Buch, tropft immer wieder auf das Buch, in dem es um Urlaub am Meer geht, und das gemalte Wasser verwandelt sich in echtes Wasser und die Seiten wellen sich und wir fangen an zu frieren und kuscheln uns näher und als das Buch langsam zu Ende geht, da hoffen wir beide, dass auch der Regen bald enden wird, weil wir so zittern. Und als der Himmel sich dann wieder aufzieht und wir die Sonne sehen, wie sie sich rausschiebt hinter der Wolkenwand, da fass ich ihre Hand und dann rennen wir, ich im Shirt und sie mit nackten Füßen, so schnell wir können, runter zum Bäcker, der jetzt aufhat, und wo uns die Bäckerin, die sehr lacht, als sie uns sieht, aus ihrer Wohnung zwei Bademäntel holt und eine große Decke und dann trinken wir heißen Kakao und teilen uns ein Rosinenbrötchen. Mama, sagt sie zu mir. Danke! Und ich fühl, wie mir das Blut warm durch die Adern jagt.